Buchrezension: Mathematikunterricht mit Computeralgebrasystemen |
Helmut Heugl, Walter Klinger, Josef Lechner:
Ein didaktisches Lehrbuch mit Erfahrungen aus dem österreichischen DERIVE-Projekt. Addison-Wesley 1996. Alle führen wir das Wort vom "computerunterstützten Mathematikunterricht" im Mund, aber es gibt kaum Literatur, die die Didaktik und Methodik des Mathematikunterrichts unter den veränderten Bedingungen reflektiert. Alle freuen wir uns wie die kleinen Kinder über unser neues Spielzeug. Wir zeigen uns gegenseitig, was für tolle Sachen wir damit machen können. Das wars dann auch (bei uns in der AMMU leider auch allzu viel). Eine Reflexion über die Unterrichtsziele und die Unterrrichtsorganisation findet viel zu selten statt. Für die Didaktik des computerunterstützten Mathematikunterrichts ist dieses Buch ein Meilenstein, hier wird ausgehend von der Unterrichtspraxis sehr grundlegend überlegt: Wie soll man nun Mathematik unterrichten? |
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Das macht das Buch, obwohl ausschließlich mit DERIVE (bekanntlich inzwischen von TI aufgekauft) gearbeitet wird, auch für jene interessant, die mit anderen Plattformen arbeiten. Leicht lassen sich die Beispiele in andere CAS übersetzen, die grundlegenden Überlegungen behalten Gültigkeit für praktisch jede neue Technologie.
Was vor wenigen Jahren noch undenkbar war, ist heute schon fast Schulalltag: Mathematische Rechenverfahren haben sich automatisieren lassen und stehen auf Knopfdruck zur Verfügung.
In der Diskussion über Segen oder Fluch der neuen Medien stehen sich zwei extreme Positionen gegenüber:
Die "Traditionalisten" lehnen das "Knopfrechnen" ab. Die Schüler sollen alle mathematischen Operationen "verstehen" und von Hand Schritt für Schritt ausführen können.
Die "Progressiven" wollen keine wertvolle Unterrichtszeit mit mathematischen Verfahren aus der Steinzeit verlieren, die die Maschinen besser beherrschen.
Oder wie es Hans Magnus Enzensberger kürzlich in einem SPIEGEL-Essay formuliert hat: "Auf der einen Seite finden wir Apokalyptiker, auf der andern die Evangelisten. In mehr als einer Hinsicht hat ja der technische Fortschritt die Nachfolge der Offenbarungsreligionen angetreten. Heil und Unheil, Segen und Fluch lesen die Auguren seit der Aufklärung nicht mehr in der Heiligen Schrift, sondern aus den Eingeweiden der technischen Zivilisation. Beiden Verkündigungen ist ein sonderbar befriedigter, um nicht zu sagen triumphierender Unterton gemeinsam." (Der SPIEGEL 2/2000, S.93)
Tatsächlich: Da noch niemand realistisch abschätzen kann, wie sich die Neuen Medien auf den Schulunterricht auswirken werden, stehen sich Heilserwartungen und Weltuntergangsprophezeiungen unvermittelt gegenüber. Umsomehr ist es zu schätzen, wenn sehr nüchtern und realistisch die Chancen und Grenzen der Computermathematik abgesteckt werden.
White Box/Black Box Prinzip
Als sinnvollen Konsens zwischen den beiden Extremen schlagen die Autoren als didaktisches Konzept das "White Box/ Black Box Prinzip" vor, ein rekursives Modell des Unterrichtens, das jeweils in zwei Phasen abläuft:
White Box-Phase: Phase des verstehenden Lernens, in der die Schüler "zu Fuß" ohne Verwendung des Computers zu einem Begriff, einem Algorithmus, einem mathematischen Konzept geführt werden. Grundtätigkeiten sollen durch Übung automatisiert werden.
Black Box-Phase: Phase des erkennenden und begründenden Anwendens, in der die Schüler die in der White Box-Phase entwickelten Algorithmen und Konzepte bei praktischen Problemen oder bei weiteren White Box-Phasen passend einsetzen. Das Bearbeiten des Algorithmus wird dem Computer als Black Box überlassen. Die Schüler sollen entscheiden, was zu tun ist, und diese Entscheidung begründen können, sie müssen es aber nicht mehr selbst tun
So können in der aktuellen White Box-Phase Algorithmen als Black Boxes genutzt werden, die früher in einer White Box-Phase erarbeitet worden sind. Durch die Verwendung der Algorithmen als Black Boxes entsteht mehr Raum für White Box-Phasen.
Allerdings sollen/müssen gewisse White Box-Kompetenzen erhalten bleiben, die Autoren erwähnen
Das kennen wir allerdings schon aus der didaktischen Literatur. Der niederländische Didaktiker Hans Freudenthal, der sicher nicht zufällig von den Autoren gerne und oft zitiert wird, hat schon in den siebziger Jahren gegen Mathematik als Fertigprodukt gewettert, die die Gedanken an Fallschirmen aus dem heiteren Himmel kommen lässt, und für eine Mathematik als Tätigkeit plädiert, bei der der Schüler die Mathematik von neuem erfinden soll. Wie wir aus eigener Erfahrung wissen, ist das gar nicht so einfach, denn: "Ein Mathematiker ist gewohnt zu objektivieren. Er publiziert nicht seine Gedankengänge, sondern eine objektive Bearbeitung: Definition, Satz, Beweis. Wenn er von den Überlegungen, die ihn zum Ziel führten, etwas veröffentlichte, käme er sich vor, als stände er in der Unterhose auf der Straße." (Freudenthal, S.102)
Ist das der Grund, weshalb wir den Akzent nicht schon längst verschoben haben "vom Lehren aufs Lernen, vom Tun des Lehrers auf das des Schülers, vom Sensorischen zum Motorischen?" (Freudenthal, S.107) Warum brauchen wir den TIMSS-Schock, um den Ruf nach Reformen laut werden zu lassen? Nun entdecken alle die angewandte Mathematik neu: "Faktisch in allen Ländern werden die Lehrpläne praxisorientierter." "Es gibt einen unverkennbaren Trend weg vom lehrerzentrierten Unterricht hin zu offeneren Unterrichtsformen, in denen selbständiges Lernen der SchülerInnen gefördert wird." Ein Streifzug durch die europäischen Länder zeige: Norwegen habe bei TIMSS gut abgeschnitten, weil dort die Mathematik "in lebensweltliche Kontexte eingebettet" werde; in der Schweiz fördere der "konstruktivistisch orientierte Unterrichtsstil Kompetenzüberzeugung und Motivation"; in Deutschland werde zähneknirschend an einer Veränderung der Aufgabenkultur gearbeitet: "hin zu einer vermehrten Verwendung von offenen, selbständigkeitsfördernden und selbstdifferenzierenden Aufgaben", es sollen "verstärkt Realitätsbezüge in den Unterricht integriert" werden. (Konrad Krainer: 3. Zwischenbericht zum Projekt IMST)
Kann dies alles durch den Computereinsatz geleistet werden?
Phasen des Problemlöseprozesses
Hören wir die Autoren weiter:
Der Weg in die Mathematik verläuft spiralförmig, die Autoren nennen diesen Prozess "Kreativitätsspirale", die durch drei wichtige Tätigkeiten gekennzeichnet ist:
Phase 1: Modellbildung: Ausgehend von dem oft noch unscharf formulierten Problem versucht man zunächst, eine präzisere verbale Formulierung des Problems zu finden. In einem Abstraktionsprozess müssen sprachliche Formulierungen in mathematische Ausdrücke übersetzt werden.
Phase 2: Operieren: Ein mathematisches Verfahren (Algorithmus, Programm, Methode) löst das Problem.
Phase 3: Interpretieren: Überprüfen der Richtigkeit
und Vollständigkeit der mathematischen Lösung, Testen der Brauchbarkeit
der mathematischen Lösungen für das Problem, Untersuchung der
Auswirkung von Parametern auf die Lösung, Überlegungen zur Modellverbesserung.
Nun lässt sich der Vorteil des Computereinsatzes präzise
angeben:
Während im klassischen Mathematikunterricht der Schwerpunkt auf der Phase des Operierens liegt (90 % der Zeit verbringt ein Schüler mit dem Lösen von Gleichungen), bietet der Computereinsatz die Chance, den Problemlöseprozess zu erweitern und auch die Modellbildung und die Interpretation in den Unterricht einzubeziehen.
So lasse sich das wichtigste Ziel des Mathematikunterrrichts, die Schulung des Problemlösens, besser erreichen. Denn damit Schüler Problemlösungsstrategien entwickeln, genügt es nicht, viele Beispiele zu lösen, es ist die Aneignung eines "Metawissens" über den Problemlöseprozess selbst notwendig.
Anwendungsorientierter Unterricht - ja bitte!
Die Autoren sehen den computerunterstützten Mathematikunterricht als aktuelle Phase einer Entwicklung, die sie für die 50er Jahre als "Aufgabendidaktik" charakterisieren, für die 60er Jahre als "New-Math-Bewegung", für die 70er Jahre als "anwendungsorientierten, genetischen Mathematikunterricht". Der Computereinsatz bedeute in dieser Kette von Entwicklungen einen Quantensprung. Der Unterricht werde schülerzentriert, der Schwerpunkt verlagere sich vom Operieren zum Planen, Reflektieren und Analysieren. Dadurch kann die Mathematik anwendungsbezogen werden.
Liebe AHS-Kollegen, herzlich willkommen bei den Anwendungen! Aber seltsam: Wird hier nicht das Pferd von hinten aufgezäumt? Weil wir nun die CAS haben, suchen wir uns Anwendungen dazu und freuen uns, was wir alles damit machen können. Sollte es nicht gerade umgekehrt laufen? Welche Anwendungen sollten die Schüler kennen, wie können wir diese Anwendungen mit CAS sinnvoll vermitteln.
Das Buch spiegelt das Dilemma der AHS-Mathematik wider, die eine klare Orientierung auf angewandte Mathematik nicht kennt. Während es im technischen und kaufmännischen Schulwesen recht klar definiert ist, welche Anwendungen beruflich relevant sind, schlittert die AHS-Mathematik orientierungslos von einem Anwendungsgebiet ins nächste. Ein bisschen Physik, ein bisschen Geometrie, dann ab in die Biologie und wieder zurück zur Mechanik, interessant ist schließlich alles.
Solchen Wechselduschen ausgesetzt, muss sich jeder Leser fragen: Ja, was jetzt? So bleiben die Anwendungen in diesem Buch ein Steinbruch, bei dem sich jeder einen Brocken für seinen Unterricht abholen kann, aber ein roter Faden fehlt.
Offene Fragen
Es gibt kein Zurück hinter dieses Buch! Der Begriffsapparat (Black Box - White Box, Kreatitivitätsspirale: heuristische - exaktifizierende - Anwendungs-Phase) bringt die Sachen auf den Punkt.
Trotzdem hätte ich da noch einige offene Fragen:
Leider reißt das Buch mit ATS 437.- (!) ein großes Loch in das Geldbörsel. Zu teuer für die Privatbibliothek? Okay! Machen Sie es wie ich: Schaffen Sie das Buch für die Schulbibliothek an und geben Sie es von Hand zu Hand.
Literatur:
Hans Magnus Enzensberger: Das digitale Evangelium. In: Der SPIEGEL 2/2000, S.92-101.
Hans Freudenthal: Mathematik als pädagogische Aufgabe. Stuttgart: Klett 1973
Konrad Krainer: Dritter Zwischenbericht zum Projekt IMST. Teil I. Klagenfurt, Oktober 1999
Helmut Heugl: Computeralgebrasysteme im Mathematikunterricht der Allgemeinbildenden Höheren Schulen (Gymnasien)
Diese äußerst instruktive Zusammenfassung des Buches finden
Sie auf dem Linzer Bildungsserver unter http://www.asn-linz.ac.at/schule/derive/d75.htm