Hermann Krammer, HTBLA Braunau am Inn
 
Die Mathematik des Klavierstimmens

Aus Anlass des 250.Todestages von Johann Sebastian Bach

Mathematische Inhalte:

Zweier-Logarithmus Anwendung: Ein Stimmgerät, das dem Benutzer 43 verschiedene Intonationen für beliebige Grundfrequenz zur Verfügung stellt, wurde als Maturaprojekt an der HTL Braunau entwickelt und gebaut. Kurzzusammenfassung: Warum gibt es die "richtige" Klavierstimmung nicht? Warum ist jedes Stimmungssystem ein Kompromiss? Nach einer mathematischen Beschreibung des Intervallbegriffs werden die grundsätzlichen mathematischen Widersprüche beim Stimmen eines Tasteninstruments behandelt. Als Beispiele für übliche Systeme werden die gleichschwebend temperierte, die mitteltönige und die wohltemperierte Stimmung nach Werckmeister erklärt und berechnet. Lehrplanbezug: Fächerübergreifendes Stoffgebiet Musik – Physik – Mathematik.
 
Die Tastatur eines Klaviers kann man auffassen als logarithmische Frequenzskala der den Tasten zugeordneten Töne 1). Der Abstand einer Oktav entspricht dabei dem Frequenzverhältnis 2:1. Ein Intervall d lässt sich mathematisch definieren als Zweier-Logarithmus des Frequenzverhältnisses der beiden Töne:

d = lb(f2/f1)

Teilt man die Oktav (d Oktav = 1) in 12 gleiche Halbtonschritte mit d Halbton = 1/12, so erhält man die gleichschwebend temperierte Stimmung. Alle Intervalle sind in dieser Stimmung Vielfache des Halbtonschritts (z. B. d gr. Terz = 4/12, dQuart = 5/12, d Quint = 7/12) 2). Diese etwas künstliche Unterteilung der Oktav bringt mit sich, dass alle Tonarten gleich klingen. Moderne Klaviere sind, zumindest näherungsweise, in dieser Art gestimmt. Eine der bekanntesten Kompositionen von Johann Sebastian Bach ist das "Wohltemperierte Klavier", eine grandiose Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Tonarten. Dass er damit die gleichschwebende Stimmung propagieren wollte, ist sicher nicht richtig. Sie klingt nämlich auf dem zur Bach-Zeit üblichen Cembalo auf Grund der unruhigen Schwebungen der Obertöne nicht gut. Wo liegen die Mängel dieser Stimmung und wie kann man ihnen ausweichen?

Definiert man die "reinen" Intervalle aus der Obertonreihe einer schwingenden Saite, d. h., aus den ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz dieser Saite, so erhält man

d Quint = lb(3/2), d Quart = lb(4/3), dgr. Terz = lb(5/4), d kl.Terz = lb(6/5), ...

Das Intervall ist umso edler, je einfacher das Zahlenverhältnis ist. Ein Durakkord (große Terz + Quint) klingt deswegen so überzeugend, weil die Frequenzen der beteiligten Töne in der "perfekten" Relation 4:5:6 stehen.

Nun führt aber diese überzeugende Theorie zu gravierenden Schwierigkeiten auf Tasteninstrumenten:

(a) Geht man von einem Grundton aus 12 Quinten nach oben, so müsste man 7 Oktaven höher wieder auf dem Grundton ankommen. Allerdings ist

(3/2)12 > 27 oder 12 lb(3/2) > 7

Man schießt also deutlich übers Ziel hinaus. Die Abweichung

d Pyth = 12 lb(3/2) – 7 = 0,01955001

bezeichnet man als pythagoräisches Komma. Vermindert man sämtliche Quinten um 1/12 dieses Wertes, teilt man also den Fehler gleichmäßig auf alle 12 Quinten auf, so erhält man die oben beschriebene gleichschwebend temperierte Stimmung. Belässt man den Fehler bei einer einzigen Quint ("Wolfsquint"), so erhält man die pythagoräische Intonation, die sich für mehrstimmige Musik nicht eignet.

(b) Noch heikler ist der Fehler bei Terzen: Stellt man 4 Quinten übereinander, so kommt man auf der Klaviatur eine große Terz und 2 Oktaven höher an, mit reinen Quinten allerdings wieder deutlich zu hoch:

(3/2)4 > (5/4) 22 oder 4 lb(3/2) > lb(5/4) + 2

Die Abweichung

d Synt = 4 lb(3/2) – lb(5/4) – 2 = 0,01792191

ist bekannt unter der Bezeichnung "syntonisches Komma".

Ein möglichst terzenreines System ist die mitteltönige Stimmung. Dabei verkleinert man die Quinten so, dass sich reine Terzen ergeben, d. h., 11 Quinten vermindert man um ¼ des syntonischen Kommas (Bild 1). Merkwürdigerweise hört man in einem Dreiklang, dessen Terz rein ist, die Quint kaum. Die Bezeichnung "mitteltönig" rührt daher, dass die reinen großen Terzen genau in der Mitte geteilt werden (etwa C-E durch D). Diese terzenreine Stimmung klingt harmonisch sehr weich und entspannt. Für unsere Ohren eigenartig wirken chromatische Tonleitern in dieser Stimmung: Die Halbtöne sind nämlich sehr verschieden groß 3).
 

Bild 1: Mitteltönige Stimmung

 
 
 
 

11 Quinten von Es bis Gis sind jeweils um ¼ syntonisches Komma verkleinert, sodass jeweils 4 Quinten eine reine Terz ergeben. Übrig bleibt die viel zu große Wolfsquint zwischen Gis und Es. Alle Terzen, die über die Wolfsquint führen, sind viel zu groß und daher unbrauchbar.
 
 

 

Die mitteltönige Stimmung eignet sich besonders für Musik des 16. und 17. Jahrhunderts. Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach läßt sich mit ihr nicht spielen. Bach plädiert mit diesem Werk wahrscheinlich für einen anderen Kompromiss, nämlich den Vorschlag von Werckmeister, einem berühmten Orgel- und Cembalobauer seiner Zeit. Es werden dabei einige Intervalle bewusst falsch gestimmt, aber in einem erträglichen Ausmaß, sodass man in sämtlichen Tonarten spielen kann. Werckmeister teilt das pythagoräische Komma auf 4 Quinten nach dem Schema von Bild 2 auf 4).
 

Bild 2: Wohltemperierte Stimmung (Werckmeister)

 
 
 
 

4 Quinten (A-D, D-G, G-C und H-Fis) sind um ¼ pythagoräisches Komma verkleinert, alle übrigen sind rein. Die Qualität der Terzen ist unterschiedlich. Am besten der reinen Terz angenähert sind F-A und C-E. Annähernd gleich gut sind G-H, D-Fis, B-D. Deutlich schlechter: Es-G, A-Cis, E-Gis, H-Dis. Alle übrigen Terzen werden durch 4 reine Quinten gebildet und sind hörbar zu groß.

 


 

Auf diese Weise entstehen bessere und schlechtere Terzen. Somit erhält jede Tonart ihre Besonderheit. Die intonationsbedingten Spannungen nehmen mit der Entfernung vom C-Dur-Zentrum zu. F-Dur beispielsweise klingt viel entspannter als E-Dur.

Neben den beschriebenen Stimmungen gibt es natürlich jede Menge anderer Möglichkeiten. Es gibt aber sicher nicht die richtige Stimmung. Jede Stimmung ist ein Kompromiss mit Vor- und Nachteilen. Die Musik einer bestimmten Epoche sollte möglichst auf einem Instrument mit adäquater Stimmung gespielt werden.

Literatur:

Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede. Deutscher Taschenbuch Verlag, 1985

Hans-Joachim Schugk: Praxis barocker Stimmungen und ihre theoretischen Grundlagen. Selbstverlag Rolf Drescher, Zuckermann-Selbstbaucembali, 1983

Anmerkungen:

1) Die exponentielle Zuordnung der Frequenzen zu den Positionen auf der Tastatur ist vergleichbar mit der Zuordnung der Zahlen zur Skala eines Rechenschiebers, der als Multiplizier- und Dividiergerät vor dem Taschenrechner unentbehrlich war.

2)  In der Musiklehre ist es üblich, die logarithmischen Werte mit dem Faktor 1200 zu multiplizieren und ihnen die Einheit Cent zu geben. Ein Halbton in der gleichmäßig temperierten Stimmung hat dann 100 Cent.

3) Die Berechnung der einzelnen Töne in Bezug zum Grundton C erfolgt, indem man gemäß dem Schema Bild 1 die korrigierten Quinten addiert und die so erhaltenen Werte in die Grundoktav zurücktransformiert, d. h., Modulo 1 nimmt. Man kann für die Halbtöne eine geschlossene Formel angeben,

xi = [( (7 i +3) modulo 12 - 3) Qm] modulo 1

mit der mitteltönigen Quint Qm bestehend aus reiner Quint minus ¼ syntonisches Komma,

Qm = lb(3/2) – ¼ (4 lb(3/2) - lb(5/4) - 2) = ¼ lb(5)

Der Index i steht für die Halbtöne: C..0, Cis..1, D..2, Dis..3, E..4, F..5, Fis..6, G..7, Gis..8, A..9, B..10, H..11.

Die Rechnung liefert
xi = {0; 0,0634; 0,1610; 0,2586; 0,3219; 0,4195; 0,4829; 0,5805; 0,6439; 0,7414; 0,8390; 0,9024}.

4) Nach dem Schema Bild 2 erhält man durch Aneinanderreihen von Quinten und Transponieren der Resultate in die Grundoktav mit der reinen Quint

Qr = lb(3/2)

und der temperierten Quint

Qt = lb(3/2) – ¼ dPyth = 15/4 – 2 lb(3)

folgende Werte für die Folge der Halbtöne:

xi = {0; 0,0752; 0,1601; 0,2451; 0,3252; 0,4150; 0,4902; 0,5801; 0,6601; 0,7402; 0,8301; 0,9101}.