Peter Schüller, HTBLuVA Mödling

Neuer Lehrplan "Angewandte Mathematik"
Grundlegende Konzepte

Hintergründe und Kontext

Mit dem Inkrafttreten der neuen Lehrplangeneration für das technisch-gewerbliche Schulwesen hat auch ein neuer Lehrplan für das Fach "Mathematik und angewandte Mathematik" Gültigkeit erlangt, welches ab nun kürzer "Angewandte Mathematik" heißt.

Dieser neue Lehrplan stellt aber nicht, wie oft in früheren Zeiten, eine Neureihung und Umordnung alter Inhalte mit dem Ziel Bestehendes an geänderte organisatorische Rahmenbedingungen anzupassen dar, sondern er will in wesentlichen Bereichen neue Wege nicht nur öffnen, sondern sogar vorantreiben.

Das Umfeld der gesamten Mathematik hat sich in den letzten Jahren so gewaltig geändert, daß man eigentlich fast schon von einem Pardigmenwechsel sprechen muß. Darüber Worte zu verlieren ist aber gerade an dieser Stelle nicht notwendig, publiziert doch die AMMU bereits seit Jahren nicht nur unermüdlich auf diesem Gebiet, sie ist letztlich ja gerade aus diesen Umwälzungen heraus entstanden.

Österreich gehört nun, international gesehen, in Folge unzähliger Aktivitäten (und hier sind absolut nicht nur jene der AMMU angesprochen), weltweit zu den Vorreitern eines zeitgemäßen Mathematikunterrichts, der sich auf moderne Medien stützt und versucht, diese methodisch und didaktisch zu integrieren. Diese Aussage ist keine Anmaßung eines kleinen Landes, sondern meßbare Realität. Als Maß dafür gilt nicht nur die hohe Fachexpertise jener großen Zahl der in diesem Bereich aktiven Lehrer und deren teils internationale Reputation, sondern viel mehr der ungewöhnlich hohe Grad des Bewußtseins innerhalb der gesamten Lehrerschaft, daß die modernen Medien grundlegende Neuerungen im Mathematikunterricht unabwendbar notwendig machen. Dieses Bewußtsein, das letztlich die Grundlage für eine reale Umsetzung darstellt, ist in den letzten Jahren aus den oben angesprochenen Aktivitäten gewachsen und hat unserem Land so an der Basis einen Vorsprung gebracht, um den uns faktisch alle anderen Länder beneiden.

Gerade im Bereich der angewandten Mathematik sind die Technologie-Entwicklungen der letzten Jahre auf den Gebieten der mathematikbezogenen Hard- und Software von zentraler Bedeutung, ja sie öffnen vielfach völlig neue Dimensionen. Der neue Lehrplan soll nun einen wesentlichen Beitrag zu diesen Entwicklungen darstellen. Er will Innovationen nicht nur ermöglichen (dies war vorerst die grundsätzliche Intention), sondern diese durch markante Inhaltsverschiebungen auch vorantreiben. Da aber HTL-Lehrpläne seit jeher (glücklicherweise) extreme Rahmenlehrpläne darstellen, sind Innovationen, die oftmals besonders im Detail liegen, teilweise auf den ersten Blick nicht sofort erkennbar. Einem klareren Verständnis der Ziele dieses Lehrplans sollen deshalb die hier vorliegenden Ausführungen dienen.

Als begleitende Maßnahme zur Einführung der neuen Lehrpläne haben für den Fachbereich Mathematik zwei österreichweite Wochenseminare "Neuer Lehrplan Mathematik" stattgefunden, die der Interpretation und Umsetzung dienen sollten. Da bei diesen Seminaren naturgemäß die Zahl der Teilnehmer begrenzt war, wurden alle dort gehaltenen Einführungsvorträge schriftlich niedergelegt und in dieser Sonderausgabe der AMMU zusammengefaßt.

Das bloße Zulassen oder Einführen neuer Technologien in den Unterricht ohne didaktisch-methodischen Hintergrund ist aber für jeden verantwortungsbewußten Lehrer nicht nur ungenügend, sondern ausgesprochen gefährlich und kontraproduktiv. Beim Arbeiten mit modernen Medien werden völlig neue mathematische Anforderungen an die Schüler (und auch an die Lehrer!) gestellt, sodaß einem gesicherten Mathematikwissen mehr Bedeutung zukommt als je zuvor. Dies an dieser Stelle näher zu erläutern würde den Rahmen sprengen und ist auch nicht erforderlich, sehr viel wurde dazu bereits (vor allem auch in den bisherigen Aussendungen der AMMU) ausgeführt. Es sei hier aber gerade auf dieses Faktums verwiesen, um deutlich herauszustreichen, daß die neuen Medien im Unterricht auch eine neue Didaktik erforderlich machen. Eine solche neue Didaktik muß sich einerseits aller Möglichkeiten bedienen, die diese Medien bieten, sich aber gleichzeitig allen Herausforderungen stellen, die durch diese an das reale Unterrichtsgeschehen gestellt werden.

In den nachfolgenden Seiten will ich nun in zwei Abschnitten beide Bereiche kurz behandeln und in die jeweilige Thematik einführen:

Was ist neu am neuen Lehrplan? – Die grundlegenden Konzepte

Reduktion der Lehrplanvielfalt

Zur Zeit gibt es, alleine für den Bereich der Höheren Abteilungen, mehr als 150 gültige Lehrpläne. Dieses "Überangebot" war nicht nur unübersichtlich, sondern vor allem auch redundant und gleichzeitig in sich widersprüchlich. Da über Jahrzehnte hinweg jeder einzelne Lehrplan für sich in der Regel von verschiedenen Personen bei Bedarf entweder neu entwickelt oder nur adaptiert worden war, finden sich zum einen in den verschiedenen Lehrplänen unterschiedlichste Bezeichnungen für gleiche Inhalte, zum anderen aber gleiche Bezeichnungen für unterschiedliche Inhalte.

Es war nun das zentrale Bestreben, zu einer einheitlichen Terminologie, hinweg über die unterschiedlichsten Ausbildungsbereiche, zu gelangen. Dies wurde dadurch erreicht, daß für die allgemeinbildenden Fächer, soweit dies möglich war, einheitliche Lehrpläne geschaffen wurden. Die "Angewandte Mathematik" nimmt dabei, infolge ihrer Nähe zu den fachtheoretischen Gegenständen, eine Sonderstellung ein. Wegen der unterschiedlichen Anzahl an Gesamtwochenstunden in den einzelnen Ausbildungszweigen (von 10 bis 16) wurde in den oberen Jahrgängen (3. bis 5.) differenziert. Einem gemeinsamen Lehrplan für die ersten beiden Jahrgänge stehen somit drei Modelle für die folgenden Ausbildungsjahre gegenüber, die sich in Umfang und Tiefe unterscheiden.

Betonung Rahmenlehrplan

Rahmenlehrpläne haben im Bereich der HTL-Ausbildung Tradition. Sie geben nicht nur dem verantwortungsvollen Lehrer den notwendigen Spielraum für eine pädagogisch optimale Unterrichtsgestaltung, sondern haben auch eine wesentliche Funktion bei der Anpassung der Inhalte an aktuelle Entwicklungen. In der neuen Lehrplangeneration wurde dieser Rahmencharakter nun noch weiter betont, um bei gleichlautendem Lehrplan auch eine Anpassung an Stundendifferenzen innerhalb der einzelnen Modelle zu ermöglichen. Die Unterschiede in den Jahreswochenstunden bedingen in diesem Sinne eine ausbildungsbezogene Schwerpunktsetzung und eine unterschiedliche Tiefe der Behandlung der einzelnen Kapitel.

Notwendiger Trend : Verschiebung von der Analysis zu mehr diskreter Mathematik

[…Differenzengleichungen…;…Fehlerabschätzung und –fortpflanzung; Konditions-problematik; Numerische Methoden zum Lösen von Gleichungen…;…statistische Methoden des Qualitätsmanagements…]

Die Entwicklung der letzten Jahre, ganz besonders im Umfeld der "Angewandten Mathematik", drängte diskrete Methoden in der Mathematik (Statistik - Qualitätssicherung, elektronische Rechenhilfen…) immer mehr in den Vordergrund. Es war im Sinne der Verantwortung für eine zeitgemäße Ausbildung unbedingt erforderlich, die Lehrpläne diesen Entwicklungen anzupassen. Die diskrete Mathematik soll in Zukunft mit absolut gleichem Gewicht der Analysis zur Seite stehen.

Einsatz moderner Technologien

[…Rechnerunterstütztes Arbeiten in der Mathematik…; …moderne Hilfsmittel zielführend einsetzen können…]

Über die Bedeutung moderner Medien besonders für die angewandte Mathematik und den technischen Mathematikunterricht im Besonderen braucht hier nichts weiter gesagt werden. Es war nun in jedem Falle notwendig, einen Einsatz solcher Medien für alle Lehrer auch zu legalisieren, indem man diese als festen Bestandteil der Lehrinhalte verankert. Damit ist aber nicht nur die Möglichkeit eines Einsatzes geöffnet, sondern gleichzeitig auch eine Verpflichtung verbunden, die Schüler mit diesen Hilfsmitteln vertraut zu machen. Wesentlich wird es dabei sein, den Schülern nicht nur das Arbeitsmittel selbst vertraut zu machen, sondern vor allem die notwendige Entscheidungskompetenz zu vermitteln, wann ein Einsatz sinnvoll und zweckmäßig ist und wann ein freies Arbeiten ohne Rechner vorzuziehen ist.

Verlagerung der Lehrinhalte von den Fertigkeiten zu den Fähigkeiten

[…Sachverhalte in Natur, Technik und Wirtschaft mit mathematischen Modellen beschreiben und analysieren sowie Modellösungen gewinnen und interpretieren können…]

Der Einsatz moderner Technologien, sei es im Unterricht oder in der realen Arbeitspraxis, bedingt eine Verschiebung des "mathematischen Arbeitens". Operationale Anteile können mehr und mehr dem Rechner überlassen werden, der Mensch wird auf dem Feld der "sturen Rechenarbeit" (damit sind durchaus auch algebraische Operationen gemeint) entlastet. Für den Unterricht hat dies doppelte Bedeutung. Einerseits treten operationale Elemente der Mathematik als zentrale Elemente der Leistungserhebung zwangsläufig immer mehr in den Hintergrund, andererseits bietet sich für die Schüler nun die Möglichkeit, weit mehr und vor allem realistische Anwendungen zu rechnen. In beiden Fällen treten aber die mathematischen Fähigkeiten (Analysieren, Modellbilden, Interpretieren) deutlich in den Vordergrund und werden zum zentralen Angelpunkt zur Bewältigung der neuen Anforderungen und Möglichkeiten. Der Mathematikunterricht, in seiner Bedeutung für das Arbeiten im technischen Berufsfeld, unterliegt somit in Zukunft mit Sicherheit einer klaren Aufwertung, kann dieser aber nur gerecht werden, wenn er seine Lehrinhalte dieser Entwicklung auch in Lehrplänen und Unterrichtsrealität anpaßt.

Was ist neu an einer "neuen" Didaktik? Was ist bei einer Umsetzung besonders zu beachten?

Wie schon eingangs erwähnt, ist für das Umsetzen jener Punkte aus dem vorigen Abschnitt, die sich auf inhaltliche und nicht auf organisatorische Bereiche beziehen, in weiten Bereichen eine neue Didaktik erforderlich. Diese muß sich einerseits ganz speziell mit den neuen Möglichkeiten und Randbedingungen auseinandersetzen, andererseits aber auch vielfach die Ziele anpassen oder gar neu definieren.

An den Beginn sei sofort eine grundsätzliche und wesentliche Feststellung gesetzt: niemand, der sich seriös mit dieser Thematik auseinandersetzt, beabsichtigt die alten und bewährten didaktischen Grundsätze und Errungenschaften zu mißachten oder gar zu verwerfen. Eine neue Didaktik ist in jedem Falle als eine Ausweitung zu verstehen, sozusagen als eine Aufstockung eines alten, aber in überwiegenden Teilen sehr soliden Gebäudes. Sicherlich wird in machen Bereichen auch eine Renovierung vorzunehmen sein, vor allem wenn die Entwicklung des Umfeldes einzelne Teile des Gebäudes funktionslos hat werden lassen.

Sicherlich ist auch hier noch vieles in Fluß und um viele Verschiebungen gibt es, geleitet durch den jeweiligen individuellen Standpunkt, grundsätzliche Diskussionen. In diese Diskussionen soll an dieser Stelle gar nicht eingegriffen werden, ich beabsichtige nicht, in meinen Ausführungen auf spezielle Details einzugehen. Hier soll Grundsätzliches aufgezeigt und besprochen werden, es soll mit diesem Teil des Artikels an einem allgemeinen (Problem)Bewußtsein gearbeitet werden. Probleme sind in den meisten Fällen nur dort wirklich gravierend, wo sie gar nicht erkannt werden!

Somit werden Sie in der Folge grundsätzlich zwei Formen von Aussagen finden:

Die Ordnung der nachfolgenden Besprechung geschieht aber nicht nach diesen beiden Gesichtspunkten, sondern nach inhaltlichen Kriterien. Eine Zuordnung geht aus der jeweiligen Besprechung hervor.

Neue methodisch Ansätze

Das Einführen eines neuen Unterrichtsmittels bringt es naturgemäß mit sich, daß man Überlegungen anstellt, wie dieses Medium optimal eingesetzt werden kann, um den Schülern das Verstehen zu erleichtern und somit den Unterrichtsertrag zu steigern. Dieser Schritt steht eigentlich immer am Anfang, so war es auch bei der Einführung der neuen Medien im Mathematikunterricht. Ich will auf diesen Bereich hier gar nicht weiter eingehen, ich betrachte ihn als weitreichend diskutiert und dokumentiert. Auch bietet er kaum Konfliktstoff, dem weit überwiegenden Teil der aufgezeigten Möglichkeiten ist kaum etwas entgegenzusetzen, fast alle stellen eine Bereicherung des breiten Spektrums dar. Dieser Punkt macht sicherlich eine großen und wesentlichen Teil der neuen Didaktik aus, ist aber alleine für sich bei weiten zu wenig.

Verschiebung von Lehrinhalten

Auch dieser Bereich ist bereits fester Bestandteil der meisten Diskussionen, stellt sich jedoch in sich weit diffiziler dar. Vor allem möchte ich hier grundsätzlich zwei Ebenen unterscheiden.

Verschiebung in der "Breite"

Gewisse Lehrinhalte (oder auch nur Teilbereiche) verlieren an Bedeutung, zum Beispiel komplexere Integrationsmethoden, händisches Erstellen von Graphen…. Andere gewinnen und treten immer stärker in den Vordergrund wie etwa Zahlendarstellungen, diskrete Methoden, Methodenkompetenz, aber auch die Medien selbst oder ganz besonders Kopfrechnen. Hier findet zur Zeit der größte Teil der Diskussionen statt und allgemein wird dieser Bereich als das wichtigste Arbeitsfeld der neuen Didaktik angesehen. Ich will dem aber doch ein wenig widersprechen. Natürlich stellen sich die hier aufgeworfenen Fragen als zentrale Thematik der Didaktik dar (was soll denn eigentlich unterrichtet werden?), dennoch glaube ich, daß es hier nur wenig schwerwiegende Probleme gibt. Im Prinzip werden (oft liebgewonnene) Inhalte gegen andere ausgetauscht und die in die (vielfach auch polemisch geführte) Diskussion geworfenen Argumente begründen sich aus dem persönlichen Verständnis des Kulturgutes Mathematik.

Weiters ist festzustellen, daß hier eben bereits eine breite Diskussion im Gang ist und somit die Entwicklung wirklich voranschreitet.

 Verschiebung in die "Tiefe"


Ich sehe gerade diesen Punkt als einen der wichtigsten Schwerpunkte, mit dem sich eine neue Didaktik genauest auseinanderzusetzen hat. Es gilt möglichst feinfühlig herauszuarbeiten, wie weit in die Tiefe gegangen werden soll und darf und welche Inhalte dafür wirklich geeignet sind. Versucht der Lehrer in allen Bereichen, die einer operativen Reduktion unterliegen, mit allen seinen Schülern in die "höheren Sphären" vorzudringen, so wäre der Großteil der Schüler mit Sicherheit überfordert. Wird hier allerdings ein sinnvolles und gut ausgewogenes Maß entwickelt, so stellt gerade dieses Verschieben die größte Chance für eine neue Wertigkeit des Mathematikunterrichtes dar! Auch leistungsschwächere Schüler haben nun die Möglichkeit Inhalte und Zusammenhänge zu erfassen, die ihnen bisher doch eher vorbehalten blieben.

Neue Wertigkeit für empirische Wissensvermittlung

Der Einsatz moderner Medien bietet den Schülern in unzähligen Fällen nun erstmals auch die Möglichkeit, bei nur minimalem zusätzlichen Zeiteinsatz mittels "geleitetem Experimentierens" (z.B.: Graph <=> Funktionsgleichung) durch eigene Erfahrung rascher Zusammenhänge zu erfassen, ein tiefergehendes Verständnis zu erlangen (der wahrscheinlich wichtigste Punkt!) und bereits erarbeitetes Wissen zu festigen. Diese Formen des Lernens sind durchaus nicht neu, waren aber mit klassischen Technologien in der Regel zu zeitaufwendig, um sie in der Alltagspraxis aus dem Stadium eines fallweisen Zusatzangebotes herauswachsen zu lassen. Deshalb werden solche empirischen Arbeitsformen gerade im Umfeld der technischen Ausbildungsbedürfnisse leider heute noch vielfach als Randgebiet des pädagogisch-didaktischen Wirkens angesehen. Es muß Teil einer neuen Didaktik sein, diese empirischen Lernformen auf Grund ihrer neuen Möglichkeiten als vollwertige Arbeitsform auch im technischen Bereich zu verankern.

Relation der Arbeit zwischen Papier und Rechner

Hier sehe ich ein nicht nur unterschätztes, sondern vielfach überhaupt nicht als solches erkanntes Problem, dem aber meiner Ansicht nach grundlegende Bedeutung zukommt! Welche Teile einer Arbeit werden, auch wenn ein Rechner (in welcher Form auch immer) ständig verfügbar ist, direkt auf dem Rechner erledigt, welche Teile auf dem Papier? Wie sollen diese Teile korrespondieren, wie werden sie in sich dokumentiert und wie werden sie gegenseitig referenziert?

Eine Betrachtung der Extreme vermittelt sicherlich ein besseres Verständnis meiner Problemsicht. Es wäre genauso unsinnig, alles auf dem Papier Schritt für Schritt nochmals niederzuschreiben, was man zwecks Reduktion stur operationaler Arbeitsanteile dem Rechner überlassen hat, wie es kurzsichtig und absolut hinderlich wäre (sowohl für die Zeit als auch für die Effizienz), alles ausschließlich in den Rechner zu "klopfen" und auf Papieranteile völlig zu verzichten. Besonders Fortschrittgläubige, die vielleicht am zweiten Extrem zweifeln, mögen nur daran denken, wie unübersichtlich und in der Folge "denkhindernd" alleine das Blättern über mehr als zwei Seiten Bildschirminhalt ist…

Was sich schon dem geübten Mathematiker als (sicherlich individuell unterschiedliches) Problem darstellt, das einiger Zeit bedarf, es in den Griff zu bekommen, erweist sich für Schüler immer wieder als unüberwindliches Hindernis und als doppelte Falle. Schüler neigen dazu, wenn sie mit einem Rechner arbeiten, zuviel auf der Maschine zu machen und zuwenig aufzuschreiben. In der Folge machen dann meist bereits bei der Arbeit selbst die angeführten Übersichtsprobleme alle Vorteile der neuen Technologien wieder zu Nichte und (der teuflische Teil der Falle) unterlassene Niederschriften verhindern ein späteres Aufarbeiten und Festigen des Wissens fast völlig. Selbst nachträglich gedruckte Hardcopies kompletter Dokumente, sofern sie überhaupt erstellt werden, sind nur in den seltensten Fällen lernfreundlich…Dieser Problembereich bleibt aber nur solange einer, als man ihn als solchen ignoriert. Ein wohldurchdachter und gut abgestimmter Einsatz beider Medien (Rechner und Papier) bringt nämlich wiederum doppelten Vorteil: einerseits wird die Lern- und Arbeitseffizienz durch die zusätzlichen Möglichkeiten des Mediums Rechner deutlich erhöht, gleichzeitig wird aber die Dokumentierfähigkeit der Schüler geschult, was in heutigen Zeiten als unverzichtbare Kompetenz zu betrachten ist.

Eine neue Didaktik ist also gefordert, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, es zu einem vollwertigen Bestandteil seiner Betrachtungen zu machen und Richtlinien auszuarbeiten. Bisher konnte ich in der Literatur nur wenig zu diesem Thema finden…

Schnittstellenproblematik

Dieses Problem belastet mich seit geraumer Zeit und leider bin ich für die unmittelbare Zukunft bezüglich befriedigender Lösungen eher sehr skeptisch. Vorangetrieben wird der sinnvolle und durchdachte Einsatz moderner Technologien im Mathematikunterricht in Österreich besonders im Bereich der höheren Schulen. Manchmal aber stelle ich mir die ehrliche Frage, wie weit dies auch gegenüber unseren Schülern zu verantworten ist. Die höheren Schulen versuchen die Ausbildung den realen Entwicklungen der Zeit und der Praxis anzupassen, während diese Entwicklungen auf den Universitäten in der Realität faktisch kaum Beachtung und Anerkennung finden. Absolventen, die sich zu einem Weiterstudium entschließen, sehen sich in der Regel bei ihrem späteren Studium plötzlich mit dar Tatsache konfrontiert, daß der Einsatz von moderner Technologie dort wiederum verboten (!) ist und sie in ihren Vorkenntnissen vor allem nach "händischen" Fertig-/Fähigkeiten (?) beurteilt werden.

So darf beispielsweise ein Wirtschaftsstudent einer Uni in Österreich bei einem Test in mathematischen Übungen beim Arbeiten mit Matrizen keinen Taschenrechner(!) benutzen, obwohl er es von seiner HTL-Ausbildung her natürlich gewohnt ist. Was mich besonders daran irritiert ist die Auskunft des Assistenten: "Wir müssen ja prüfen, ob Du auch was verstehst und nicht was der Rechner kann!". Es handelt sich hier sichtlich um ein tiefergreifendes Problem der Sichtweise. So wird etwa die Fähigkeit, eine Matrix in Diagonalform zu bringen, wobei noch eine Reihe von Brüchen auftreten, an dieser Uni sichtlich als "Fähigkeit" angesehen, während ich darunter doch eher eine Fertigkeit verstehe…und dieser Fall (im eigenen Familienkreis und somit authentisch) ist durchaus kein Einzel-, sondern eher der Regelfall.

Wie immer auch diese Sache vom Einzelnen gesehen wird, für mich bleibt das erschreckende Faktum weit klaffender Divergenzen bei Verwendung und Akzeptanz moderner Technologien in Zusammenhang mit dem Begriff "Mathematik". Da ich aber leider nicht sehr optimistisch bin, daß sich diese Einstellung an den meisten Universitäten in unmittelbarer Zukunft gravierend ändern wird (vereinzelte Randangebote im Vorlesungskanon bleiben der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein), muß eine neue Didaktik versuchen, auch auf dieses Problem einzugehen und zumindest für die nächsten Jahre der Übergangsentwicklung (Kompromiß)Lösungen zu entwickeln und anzubieten. Die Kernfrage muß dabei lauten: "Wie weit kann eine Sekundarstufe gehen Unterricht auf modernen Medien aufzubauen, wenn Weiterstudierende später Probleme erhalten, weil gewisse operationale Fertigkeiten wieder vordergründig verlangt werden?"

Prüfungsproblematik

Das Thema Leistungserhebung gehört sicherlich zu den Kernbereichen pädagogisch-didaktischer Überlegungen. Die Probleme scheinen hier auf den ersten Blick vielschichtig, doch stellt sich in meinen Augen nur ein einziger Punkt (der letzte) als wirklich tiefgreifendes Problem dar.

All die bis jetzt aufgezählten Probleme sind zwar vorhanden, stellen aber meiner Meinung nach so etwas wie Einstiegsprobleme dar, die sich durch Erfahrung und regelmäßiges Arbeiten einpendeln werden und, wenn auch teilweise nur mit erheblichen Einsatz, durchaus bewältigen lassen.

 Scherenproblematik

Als weiteres großes Problem, aber gleichzeitig als große Chance, sei angeführt, daß die Schere zwischen leistungsstarken und leistungsschwächeren Schülern deutlich größer zu werden droht. Interessierte und flexible Schüler nutzen ungemein rasch die Möglichkeiten der modernen Technologien und entfernen sich so immer weiter vom Wissensstand des Durchschnittes. Schwache Schüler hingegen sehen sich vielfach mit zusätzlichen, bisher eher kaum gekannten Problem konfrontiert.. Als Beispiel fallen mir etwa spontan für den TI-92 gleich mehrere Befehle (bzw. Wege) für das Lösen eine Gleichung ein: Solve – Nsolve – Zeros – Csolve – Graphik… Jeder einzelne hat seine Vorteile, seinen mehr oder weniger festen Platz im mathematischen Arbeitsgeschehen, seine typische Situation, wo gerade auf ihn zugegriffen werden sollte. Es besteht nun das Problem, daß sich eine Leistungsschwäche bei Schülern eben gerade auch in einem Mangel an Methodenkompetenz manifestiert. Die schwächeren Schüler sind in der Folge häufig überfordert, die richtige Wahl zu treffen, was sie gegenüber dem Durchschnitt sehr bald ins Hintertreffen gelangen läßt. Somit besteht die Gefahr, daß die angesprochene Schere durch den Einsatz moderner Technologien weiter geöffnet wird.

Dieses Problem ist sehr wohl bekannt und schon mehrfach durch Studien belegt. Wesentlich erscheint mir dabei, daß auch dieses Problem als ein zentrales Arbeitsfeld für eine "neue Didaktik" gesehen und verstanden wird. Lösungen sind durchaus greifbar, bedingen aber sehr oft angepaßte Unterrichtsformen, vor allem mit stark erhöhten Individualanteilen (Individual-Lernziele, unterschiedliche Aufgabenstellungen für Hausübungen, Gruppenarbeit mit Individualbertreuung durch Lehrer oder Mitschüler…). Auch viele Artikel in den AMMU-Aussendungen der letzten Jahre befassen sich mit dieser Thematik und zeigen Lösungsansätze auf. Bei einem bewußten Sehen dieser Hürde und entsprechendem Eingehen auf die Situation haben allerdings gerade die schwächeren Schüler die große Chance am Ende mehr zu erfassen als in starren "klassischen" Ausbildungsformen, da in einem weit höheren Maße auf das Einzelindividuum eingegangen werden muß.

Integration von multimediale Lernsoftware und CBT in den klassischen Unterricht

Auch dieser Bereich muß angesprochen werden, wenn man von einer neuen Didaktik spricht. Wer die Möglichkeiten multimedialer Techniken in Bezug auf das Lernen an sich leugnet, steckt schlicht und einfach seinen Kopf in den Sand. Dazu kommt, daß das Angebot an multimedialer Lernsoftware ständig steigt, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht.

Zweifelsohne ist dabei das ideale Einsatzgebiet vor allem in den Bereichen und Formen des Selbststudiums zu suchen, wie etwa bei Fernstudien oder in der Erwachsenenbildung. Weiters aber, und gerade das interessiert hier, können (und werden) diese Medien eine wertvolle Ergänzung zum personenbezogenen Unterricht darstellen (Selbstnachhilfe, Lernergänzung, Wiederholung, Individualprojekte, Selbsttests...).

Grundsätzlich bieten sich aber die Möglichkeiten multimedialer Lernsoftware auch für den Regelunterricht in der Schule an. Dem Lehrer kommt jedoch dabei noch größere Bedeutung zu, als bei allen anderen Unterrichtsformen. Er mutiert während der Arbeitsphase vom Lehrer zum "lenkenden Betreuer" und ist bei der unbedingt notwendigen nachfolgenden Reflexion der zentrale Faktor, ob das gesammelte Wissen auch eingeordnet und umgesetzt werden kann. Es scheint ganz wesentlich herauszustellen, daß "von alleine" überhaupt nichts geht (wie in so mancher Werbetrommel vorgegaukelt wird)!! Ein Einsatz von multimedialer Lernsoftware stellt in jeder Hinsicht erhöhte Anforderungen an den Lehrer (aufwendigste Vorbereitung, höchste Flexibilität, Stehen über den Dingen…). Da sich die konkrete Unterrichtssituation durch den individuellen Lernweg (dem eigentlichem Sinn) weitgehend offen darstellt, wird der Lehrer laufend vor nicht vorhersehbare Fragen und Probleme gestellt. Er ist nun nicht nur gezwungen sinnvoll auf alles zu reagieren, was an ihn herangetragen wird, sondern er muß gleichzeitig darauf achten, daß das individuelle Fortkommen des Schülers sich dabei weitgehend im Rahmen des generellen Lernzieles bewegt. Hier ist ein weites Betätigungsfeld für eine "Neue Didaktik" zu orten, in welchem die Entwicklung eher erst am Beginn steht. Als besondere schwierig stellt sich für mich dabei die Anforderung dar, bei einer lehrplanbedingten und für den Regelschulbetrieb notwendigen Vorgabe fest umrissener Lernziele individuelle Lernsoftware mit ihren offenen Strukturen harmonisch zu integrieren.

Abschließende Zusammenfassung

Im letzten Abschnitt habe ich nun versucht darzulegen, wo die großen Probleme beim praktischen Umsetzen der neuen Ideen zu erwarten sind und worauf sich die Arbeit einer "Neuen Didaktik" konzentrieren wird müssen. Viele Lösungsansätze liegen bereits vor, sind weitgehend bekannt und umfangreich publiziert, einige Probleme stellen sich noch weitgehend offen dar.

An das Ende der Ausführungen seien, im Sinne einer Betonung, noch einmal jene Punkte herausgestellt, die aus meiner Sicht wesentliche Entwicklungsfelder für eine "Neue Didaktik" darstellen, aber in der allgemeinen Diskussion eher wenig oder gar nicht beachtet werden.

Die großen Hürden für die "Neue Didaktik"

Allen in den letzten Seiten angesprochenen Problemen ist jedoch gemeinsam, daß ihnen die Spitze bereits in dem Moment genommen ist, da sie dem unterrichtenden Lehrer bewußt werden. Das Schaffen oder Festigen dieses Bewußtseins war nun das eigentliche Ziel dieses Artikels.

Wir stehen im Moment in gewissem Sinne an der Kippe. Läßt man die neuen Technologien in den Unterricht einfließen, ohne sich selbst inhaltlich (methodisch, pädagogisch und didaktisch) darauf einzustellen, ist die Gefahr gegeben, wirklich großen Schaden anzurichten. Ist der einzelne Lehrer jedoch bereit, sich auf die neue Situation umzustellen und unterzieht er sich der wirklich großen Mühe, sein gesamtes Programm (Vorbereitungen, Prüfungsaufgaben, Lernmaterialien, Übungszettel…) nach und nach anzupassen und umzustellen, so bietet sich die in meinen Augen historische Chance, auch schwächere Schüler vom Verstehen her in mathematische Bereiche vorstoßen zu lassen, die ihnen bisher in überwiegendem Maße vorenthalten bleiben mußten. Und dies würde letztlich eine gewaltige Aufwertung des Mathematikunterrichtes bedeuten!

In diesem Sinne ersuche ich Sie (besonders im Interesse der uns anvertrauten Schüler) an das Arbeiten mit dem neuen Lehrplan heranzugehen und die Möglichkeiten, die er bietet nach und nach voll auszunützen. Die Gestaltung als Rahmenlehrplan sollte dabei genügend Freiheit belassen, diese doch recht erhebliche Umstellung nicht vollständig von heute auf morgen umsetzen zu müssen.